Sabrina Zelezný: Kondorkinder – die Suche nach den verlorenen Geschichten
Wenn man Bücher hören könnte, dann klänge „Kondorkinder“ nach dem Wind, der über die Hochplateaus der Anden weht, und nach dem Flügelschlag eines mächtigen Vogels. Wenn ein Buch nach etwas riechen würde, dann röche „Kondorkinder“ nach Staub und Sonnenlicht, nach Mais und Lamawolle. Wenn ein Buch nach etwas schmecken würde, dann schmeckt „Kondorkinder“ ganz sicher nach Maisbier und Karamell, und auch ein bisschen nach Salz und Tränen, bittersüß und geheimnisvoll. „Kondorkinder“ erzählt von lebendigen Geschichten, von Gegensätzen und Vorurteilen, von Welten, die aufeinanderprallen und von dem Versuch, beide Welten auf friedliche Weisemiteinander zu verbinden. Es erzählt von einer Reise, die niemals endet und von einer Aufgabe, die mit jedem Schritt auf dem Weg ihrer Erfüllung größer wird.
„‚Bücher sind schön, Herr‘, heißt es im Klappentext, ‚Sie erzählen Geschichten. Sie sagen uns, wer wir sind. Sie sind gut, um nicht zu vergessen. Bücher sind unsere Seelen aus Papier. Aus Tinte. Darum ist Büchermachen gut, es ist Leben. Darum will ich Büchermachen lernen.‘ So bittet Yawar um eine Lehrstelle beim Meisterbuchbinder. Er sollte der Hüter des Spiegelbuches sein, das Zuflucht der Geschichten des Hochlandes ist. Doch dann wurde das Spiegelbuch zerstört, und die Geschichten streifen nun heimatlos umher. Im Auftrag der Berggötter muss Yawar ein neues Spiegelbuch schaffen. Bald ist das Ziel zum Greifen nah, aber er hat einen mächtigen Fluch auf den Fersen.“
Yanakachi hat nur ein Ziel – ihren Sohn Yawar zu beschützen, vor der Vergangenheit, vor einer möglichen Zukunft und vor der Macht des geschriebenen Wortes. Doch auch Yanakachi kann ihrer Vergangenheit nicht entfliehen. Als sie eines Nachts den verletzten Kondor vor ihrer Hütte findet, beginnt eine Geschichte, der weder Yanakachi, noch Yawar entkommen können. Yawar soll der Yuyaq sein, der Hüter des Spiegelbuches, in dem die alten Geschichten der Andenvölker aufgeschrieben stehen und wie ein Schatz gehütet werden, damit sie niemals in Vergessenheit geraten. Denn wer seine Geschichte verliert, das wissen die Rebellen, die sich Kondorkinder nennen, der verliert sich selbst. Yawar will sich der Aufgabe stellen – doch es kommt alles ganz anders. Das Buch wird zerstört, ein Fluch beginnt sein dunkles Leben und das einzige, was den Fluch abwenden kann, ist die Erschaffung eines neuen Spiegelbuches für die Geschichten, die in dem Augenblick, in dem das Buch vernichtet wurde, heimatlos wurden.
„Kondorkinder“ ist ein Roman voller Poesie. Er entführt den Leser in die Anden, in das Peru der spanischen Kolonialherrschaft, in der die Welt der Indios und die Welt der spanischen Macht aufeinanderprallen und gegensätzlicher nicht sein können. Er erzählt von dem Streben der Hochlandbewohner, sich selbst nicht zu verlieren unter dem Einfluss der Spanier, vom Bewahren alter Geschichten und dem Bewahren der eigenen Identität. Sabrina Zelezný schreibt so, dass man vom ersten Augenblick an in die Geschichte hineingesogen wird, so als sei „Kondorkinder“ selbst so eine lebendige Geschichte, die in das Spiegelbuch gehört. Man merkt der Autorin an, wie sehr sie die Andenwelt liebt und wie intensiv sie sich mit ihr befasst hat. „Kondorkinder“ ist spannend und poetisch, romantisch und bittersüß, zum Heulen traurig und zum Schreien komisch. Die Figuren schleichen sich in das Herz des Lesers, jede einzelne plastisch und lebendig – und in ihrem Handeln, so bitter es manchmal auch sein mag, nachvollziehbar. Der Abschied von Yanakachi, Yawar und Isabel, von Mismi und Sabancaya und vor allem von „Tschakka Alpaka“ Chaski fiel mir richtig schwer. „Kondorkinder – die Suche nach den verlorenen Geschichten“ ist ein Buch, das ich sicherlich nicht nur einmal lesen werde. Ich bin schon sehr gespannt darauf, wie es mit dem Spiegelbuch weitergeht. In „Kondorkinder – der Fluch des Spiegelbuches“.